Leseprobe
… Die schwere Holzeingangstür war zerkratzt und nur angelehnt. Die Spuren von jahrelangem Gebrauch waren unübersehbar. Giselas Neugier siegte über ihre Angst vor dem, was sie bald wiederzuentdecken glaubte. Sie drückte gegen das dunkle Holz und huschte schnell ins Innere des alten Mehrfamilienhauses. Darf man das? Ohne zu klingeln in ein fremdes Haus gehen? Gisela zögerte nur kurz. Sie wollte hier von niemandem gesehen werden. Schnell, schnell, befahl ihr eine innere Stimme. Sie würde sich beeilen müssen. Wenn bloß niemand zufällig vorbeikäme! Die Kellertür war ebenfalls nicht verschlossen, so als warte sie nur darauf, dass Gisela in die dunklen, muffig riechenden Räume hinabsteigen würde. Sie wusste noch, dass der Lichtschalter rechts an der Wand angebracht war und konnte ihn trotzdem nicht betätigen. Ihre Hände schienen wie gelähmt. So blieb der Keller in schummriges Dunkel gehüllt. Das Luftholen fiel ihr schwer. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an das Dämmerlicht. Eins, zwei, drei ... Gisela zählte bis acht und wusste ohne nachzuzählen, dass nach der achten ausgetretenen Stufe der obere Keller erreicht war. Sie musste nicht lange überlegen, um zu wissen, dass auf dieser Ebene die vier Lattenverschläge der Mieter lagen. Hatte sich hier in all den vergangenen Jahren etwas verändert? Ihre Eltern hatten Gartenmöbel, Handwerkszeug, einen Kleiderschrank und die Fahrräder aller Familienmitglieder dort drüben abgestellt. Durch zwei kleine Außenfenster, vor einem kleinen Lichtschacht, drang das Tageslicht von außen nur schwach hindurch. Es beleuchtete notdürftig das abgestellte Gerümpel. Von oben im Haus hörte sie ein leise schlurfendes Geräusch. Trotzdem ging sie weiter. Eine schmale Steintreppe führte von hier aus noch ein weiteres Stockwerk tiefer, hinab in den feuchten, nach Erde riechenden Vorratskeller. Obst und Gemüse, Kartoffeln, Weinflaschen und unzählige Einmachgläser wurden damals in diesem Teil des Kellers kühl und lichtgeschützt aufbewahrt. Das Kellergewölbe hatte man beim Bau des Hauses aus dem felsigen Untergrund herausgeschlagen. Es diente als Fundament und gab dem Fachwerkhaus schon seit über hundert Jahren Halt. Der Verputz an den Wänden war noch genauso feucht wie früher, bemerkte Gisela, als sie mit zitternden Fingern darüberstrich. Iih, pfui! Damals krochen hier Kellerasseln und schwarze Käfer herum. Sie ekelte sich, wenn sie daran zurückdachte. Was wollte sie hier? Sich nur einmal kurz umsehen. Nur nicht an das abgestellte Gerümpel stoßen! Nur keinen Lärm machen! Wieder das schlurfende Geräusch – menschliche Schritte, die Gisela signalisierten, dass sie nicht mehr alleine im Keller war. Ein kühler Lufthauch und das Knarren einer Holztür erschreckten sie. Was sollte sie jetzt tun? Hatte soeben jemand hinter ihr die Kellertür geschlossen oder war schon vor ihr jemand im Keller gewesen? „Hallo, hallo, ist da jemand?“, rief sie angstvoll in die Dunkelheit.Niemand gab ihr eine Antwort. Trotzdem war sie sich sicher, dass sie nicht alleine war. Zitternd lehnte sie sich mit dem Rücken an die Kellerwand, so als könne sie sich dadurch unsichtbar machen. Die Geräusche der vorbeifahrenden Autos drangen nur schwach von der Straße hinab in den Keller. Wasser gluckerte in den Abflussrohren. Stand jetzt die Zeit still? Tat sich ein Loch im Erdboden auf, in das sie versinken konnte? Vielleicht würde man sie gar nicht bemerken? Nur nicht zu laut atmen oder gar husten! Gisela war unfähig, weiter in den Keller hinabzusteigen und genauso unfähig, nach oben ans Tageslicht zurückzurennen. Wo war ihr Asthmaspray? Sie starrte ins Dunkel und sah doch fast nichts. Nur ein fahler Lichtschein drang durch das Dunkel der Umgebung. Wie gelähmt stand sie an der Wand, roch plötzlich ein Gemisch aus Bier, Schweiß und Zigaretten. Der Geruch wurde immer intensiver. Dieser Geruch, der sich mit dem modrigen Mief der Umgebung vermischte, an den sie sich blitzartig wieder erinnerte, machte ihr Angst. Ihr Rücken fühlte die Kälte der Wand. Dunkelheit umgab sie. In ihrem Kopf dröhnte es. Sie stieß gegen etwas Schweres, Massiges. Dort drüben lehnte eine große Holzlatte an der Wand. Weg, nur weg von hier! Zurück nach oben ans Tageslicht! Sie brauchte dringend frische Luft. …
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