Todeskanzel, Astrid Hennies - UniScripta Verlag, edition ullrich

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Todeskanzel, Astrid Hennies

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Inhalt

Ein Erdbeben in der Walpurgisnacht - die 'Teufelskanzel', sagenumwobene Spitze des Kandelberges im Schwarzwald, stürzt ab. Das ins Tal rollende Gestein legt ein Kindergrab frei; eine unbekannte kleine Leiche - verscharrt in einem Waldstück unterhalb des Felsens. Die Spur des ermordeten Mädchens führt die Ermittler in das idyllische Elztal und nach Frankfurt am Main. Ein Frankfurter und ein Freiburger Kommissar müssen sich mit Hexenglauben, Brandschatzung, Geldwäsche, Bauspekulation und Mord auseinandersetzen.  Sie stoßen auf einen spektakulären Mordfall in Frankfurt/M., wo eine ganze Familie auf geheimnisvolle Weise verschwunden ist. Auf der Suche nach dem Mörder weiten sich die Ermittlungen bis nach Italien aus  und und führen die beiden Hauptkommissare Hellmich und Weinberg immer tiefer in eine menschliche Tragödie hinein.

Leseprobe

Die Tauchergruppe machte sich am Ufer fertig. Der Schluchsee ist eines der schönsten Tauchbasen im Schwarzwald - 930 Meter hoch gelegen. Ein Bergsee, der in den 20er Jahren aus der Stauung der Schwarza entstanden war. Damals wurde ein altes Dorf überflutet, das am Flussufer lag und geräumt werden musste. Jetzt liegen die Ruinen der Häuser in 61 Meter Tiefe und sind ebenso wie die Überreste der alten Staumauer und der ehemaligen Poststraße, die durch das Dorf verlief, ein Anziehungspunkt für die Taucher. Auch ein versunkener Stocherkahn liegt dort unten.
Die Tauchbasis Deepwater befand sich direkt am Ufer im Gebäude des Bahnhofs Seebrugg. Der Anfängerkurs unter der Leitung von Ralph Seidel machte sich an diesem Sommertag Ende Juni fertig, legte die Tauchanzüge an, die Flossen und den Bleigurt zur Fixierung. Ralph überprüfte bei jedem die Luftversorgung über das Drucklufttauchgerät. Heute sollte es zum ersten Mal bis auf den tiefsten Grund des Sees gehen. Er wusste, dass es dort sehr dunkel war,verstärkt noch durch den Torf, der sich auf dem Grund abgelagert hatte.
„Lampen an, kontrolliert, ob alle funktionieren", wies er seine Gruppe an. „Und bleibt beieinander!"
Danach stapften die acht jungen Leute im schwerfälligen Entenmarsch hinter Seidel ins Wasser.
Er war ein erfahrener Tauchlehrer. In diesem Jahr hatten sie noch nicht viele Kurse gehabt. Das Wetter war schlecht und die Interessenten waren lieber ans Rote Meer oder in andere attraktive Sonnengegenden am Wasser geflogen als in einem kalten dunklen Schwarzwaldsee zu tauchen. Er führte seine Gruppe zu allen sehenswerten Objekten unter Wasser. Am Schluss tauchten sie zum tiefsten Punkt. Nur die Lampen durchdrangen punktuell die Finsternis und ließen die Taucher wie  seltsame Schatten in einer Schattenwelt erscheinen.  Der See war nicht sehr fischreich und so sahen sie nur wenige Barsche oder Hechte, die neugierig an ihnen vorüberschwammen.
Am Schluss ließ Seidel sie immer ein Ritual durchführen. Sie stellten sich in über 60 Meter Tiefe im Kreis auf, knipsten die Lampen aus, reichten sich die Hände und verharrten so sekundenlang, um gemeinsam die geheimnisvolle Stille und  Düsternis unter Wasser auf sich wirken zu lassen.  
In diesem fast meditativen Moment sah Seidel rechts von sich einen großen unbeweglichen Schatten. Er war sich nicht sicher, konnte die Entfernung in der Dunkelheit  auch nicht genau einschätzen, wollte die Gruppe auch nicht beunruhigen. Das schwarze Wasser war trügerisch, manchmal sah man  Dinge, die gar nicht vorhanden waren.  Er nahm sich vor, heute noch einmal allein zu tauchen, um diesen mysteriösen Gegenstand zu untersuchen.
Er führte die Gruppe wieder nach oben; jeder erhielt sein Tauchzeugnis. Es dauerte einige Zeit, bis Seidel sich von der anschließenden gemeinsamen Feier auf dem Grillplatz wegschleichen konnte. Inzwischen waren mehrere Stunden vergangen, es war noch dämmrig, obwohl seine Uhr schon beinahe 22.00 Uhr anzeigte. Er legte seinen Tauchanzug an und nahm die stärkste und  hellste Unterwasserlampe mit.
Der See lag dunkel und geheimnisvoll in dem schwindenden Licht. Ralph Seidel schwamm hinaus, bis er meinte, ungefähr über dem tiefsten Punkt zu sein. Dann knipste er die Lampe an und tauchte. Er suchte eine ganze Weile,  sah die Umrisse der versunkenen Gebäude links von ihm, bewegte sich mehr vom Ufer weg, schwamm über dem versunkenen Kahn, die alte Staumauer – alles bekannte und vertraute Objekte. Er schwamm weiter nach links – nichts, kehrte um, näherte sich wieder mehr dem Ufer - auch hier nichts. Sollte er sich geirrt haben?
Er wollte schon wieder hochschwimmen, als seine Lampe einen großen, unförmigen Gegenstand streifte. Seidel schwamm darauf zu, ein dunkles Auto . Er umrundete es, konnte erkennen, dass es noch nicht lange im Wasser gelegen hatte, ziemlich neu, kaum Rost, kein Algenbewuchs.
Und dann sah er die Gestalt. Beinahe hätte er den Mund geöffnet, um laut zu schreien. Die Frau saß aufrecht auf dem Beifahrersitz in der geschlossenen Fahrerkabine. Er schwamm ganz nah an das Fenster heran, um sie von außen zu betrachten, richtete die Lampe auf ihr Gesicht. Blass und weiß starrte sie ihn aus leeren Augenhöhlen an, den Mund zu einem grotesken Grinsen verzerrt, ein schrecklich feixendes Gesicht, das nach vorne gesunken war.
Obwohl er Taucher war und sich viel im Wasser bewegte, hatte Seidel noch nie eine Wasserleiche gesehen. Entsetzt stützte er sich unwillkürlich auf das Auto, so dass dieses in Bewegung geriet und mit ihm das Wasser im Inneren. Die langen Haare des Schädels bewegten sich im Wasser und verliehen dem bleichen feuchten Ding, das einmal ein Mensch gewesen war, eine furchtbare Lebendigkeit.
Das vollständige Fehlen von Luft hatte den Körper konserviert, das Wasser ihn aber ziemlich aufgedunsen. Schreck und Aufregung ließen Seidels Herz heftig klopfen, er musste aufpassen, dass er nicht unwillkürlich anfing zu hyperventilieren oder in Panik zu schnell nach oben tauchte. Beim Gerätetauchen war das langsame Ein- und Ausatmen lebensnotwendig. Immer wieder hatte er das seinen Schülern eingeprägt.
„Wenn ihr in Panik ohne auszuatmen, aufsteigt, wird die Lunge überdehnt, Luft kommt in die Blutgefäße. Das kann zu Lähmungen führen."
Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass er selbst eine Situation erleben könnte, in der er Gefahr lief, sich unüberlegt zu verhalten und diese existentielle Taucherregel zu vergessen.  
Seidel zwang sich dazu, langsam nach oben zu tauchen, kontrolliert ein- und auszuatmen, ruhig zu bleiben.
Als er endlich mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchstieß, den Schnorchel, der ihn mit dem Atemgerät verband, aus dem Mund nahm, atmete er tief durch. Noch nie hatte er die Nachtluft als so würzig und frisch empfunden.
Am Ufer kletterte er mühsam eine Böschung hoch. Oben angekommen, warf er seine Ausrüstung in das Gras, musste sich erst orientieren, denn er war ziemlich weit von der Tauchbasis entfernt ans Ufer gekommen. Keuchend rannte er in Richtung Ort, erreichte das Gebäude. Natürlich war alles verschlossen. Zum Glück war die Bahnhofskneipe noch offen. Die Wirtin räumte gerade Gläser und Geschirr zusammen, als er die Tür aufriss.
„Schnell Martel, isch brauch ean Telefon", und dann rief er die Feuerwehr und die Polizei an.
Mit der Bergung konnte erst am frühen Morgen begonnen werden. Die Feuerwehr musste einen Kahn, der über einen speziellen Bergungskran verfügte, zu Wasser lassen.Taucher befestigten das Auto mit Ketten an diesen Kran und hievten es aus 60 Meter Tiefe aus dem Wasser.
Das Auto, ein neuer VW-Passat, war fast unbeschädigt. Nicht einmal die Nummernschilder waren entfernt worden.  Offensichtlich hatte ihn jemand an dieser steilen Stelle ins Wasser gerollt. Vorsichtig öffneten die Feuerwehrleute die Türen, um  das Wasser langsam abfließen zu lassen und die Leiche nicht zu beschädigen. Der Kopf der Frau war nach vorne gesunken, was der Pathologe mit einer ersten Aussage kommentierte: „Eindeutig Tod durch Genickbruch."
Erst da sahen sie, dass die Frau einen farblosen Blumenstängel in der Hand hielt.

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