Der Harlekin
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Inhalt Der siebenjährige Felix Wolf verschwindet spurlos vom Spielplatz in der Nähe seines Elternhauses am noblen Frankfurter Lerchesberg. Die Polizei geht von einer Entführung aus. Hauptkommissar Ulrich Becker und sein Team, den Lesern bereits bekannt aus Chris Böhms erstem Kriminalroman DER LETZTE BESUCHER (2011), ermitteln im Umfeld der Familie und finden heraus, dass unter der glatten gutbürgerlichen Fassade nichts so ist wie es scheint … | ||
Leseprobe Seit Wochen hatte er das Haus und seine Bewohner beobachtet. So oft er frei hatte, immer wieder, stundenlang. Frühmorgens, mittags oder am Abend. Fast jeden Morgen verließ die blonde Frau im Jogginganzug kurz vor acht mit dem Kind an der Hand das Haus und brachte es in die nahe gelegene Schule. Das Kind lief meist fröhlich neben ihr her, oft lachten sie und alberten herum. In Sichtweite der Schule blieben sie kurz stehen, sie strich ihm liebevoll übers Haar, dann sauste der Junge los und verschwand mit den anderen Kindern im Schul- gebäude. Die Frau lief danach meistens hinüber zum Stadtwald und joggte ein paar Runden. An manchen Tagen begann die Schule eine Stunde später. Dann fuhr der Vater das Auto aus der Garage und ließ seinen Sohn mit seinem bunten Scout-Ranzen hinten einsteigen. Meistens stand die blonde Frau in der Haustür und winkte ihnen nach, bevor sie wieder im Haus verschwand. Er spürte dann jedesmal ein Ziehen in der Brust und biss sich auf die Lippen bis sie schmerzten. Gegen Mittag wartete er in Sichtweite der Schule hinter einer Ecke, bis die Kinder das Gebäude verließen. Er vertrieb sich die Wartezeit, indem er die Flugzeuge zählte, die über ihn hinwegbrummten und seit einiger Zeit das ganze Viertel in Aufregung versetzten. Seit es die neue erweiterte Start- und Landebahn gab, war es mit der Ruhe in diesem bis dahin verschonten Randgebiet im Süden Frankfurts vorbei. Die Anwohner hatten stets aus sicherer Entfernung die Nachbarn im angrenzenden Neu Isenburg bemitleidet, die seit Jahrzehnten unter dem Fluglärm litten, und waren froh, dass der Stadtwald zwischen ihnen lag. Damit war es nun vorbei, denn auch hier, wo die feine Gesellschaft Frankfurts zu Hause war, donnerten inzwischen die Flugzeuge über die Häuser. Für den Rückweg gab es offenbar eine Absprache zwischen den Müttern der Grundschüler, die in der Nachbarschaft wohnten. Sie holten die Kinder mittags abwechselnd ab, bei schönem Wetter zu Fuß, oder, wenn es regnete, auch mal mit dem Auto. Bis zur Schule waren es nur ein paar hundert Meter. Das Haus von Felix Eltern lag am weitesten entfernt, darum kam er meistens als Letzter. Seine Mutter stand stets schon wartend an der Tür und schaute ihm entgegen. Bei schönem Wetter kam das Kind so gegen halb drei wieder aus dem Haus und ging mit den Nachbarskindern zum Spielen auf den nahe gelegenen Spielplatz bei den Kleingartenanlagen. Dort tobten sie eine Weile, spielten Fußball oder belagerten die Rutschbahn und die Kletterwand, bis ihnen langweilig wurde und sie sich eines nach dem anderen wieder auf den Heimweg machten. Felix blieb oft länger als die anderen Kinder. Er liebte die Kletterwand und mochte es, wenn er sie für sich allein hatte. Dienstags und donnerstags war es anders. Er hatte beobachtet, dass Mutter und Sohn an diesen Tagen nachmittags gegen drei Uhr im kleinen Mini Cooper davonfuhren und erst gegen sechs Uhr wieder nach Hause zurückkehrten, manchmal sogar noch später. Der Vater kam abends häufig sehr spät. Nur an den Wochenenden war er regelmäßig zu Hause bei seiner Familie. Oft hatten sie Besuch. Bei schönem Wetter hörte er aus dem Garten hinter dem Haus Stimmen und Gelächter, und der Duft von gegrilltem Fleisch drang in seine Nase. Er wäre gern ein Teil von ihnen gewesen, die da feierten und lachten. Aber er war ein Ausgestoßener, ein Niemand, den sie in ihrer Welt nicht duldeten. Die sorglose Fröhlichkeit der anderen schmerzte ihn. Blinder Hass brandete in ihm auf, und er machte dann schnell, dass er fortkam. Doch bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit war er wieder da. Immer wieder. Abends, wenn er allein in seiner winzigen spärlich eingerichteten Wohnung saß, machte er sich Notizen und fuhr im Geiste die von Bäumen gesäumten gewundenen Straßen mit den gepflegten Villen hinter sorgfältig gestutzten Hecken entlang, die den Ortsfremden in Windungen immer wieder an die gleiche Stelle zurückführten, die das weiträumige Viertel mit der nahen B3 verbindet. Das Besondere daran war, dass diese Zufahrt nur am Vormittag in Richtung Bundesstraße und nachmittags in umgekehrter Richtung befahren werden durfte. Eine merkwürdige Verkehrsführung war das, vor der sogar sein Navigationsgerät kapituliert hatte. Man mochte eben keine Fremden in dieser Gegend. Aber er kannte sich inzwischen aus und verfuhr sich nicht mehr. |