Das Ende des Fegefeuers
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Inhalt Ein Historischer Roman zum LUTHERJAHR 2017 - Die Eppsteiner haben die Geistlichen der Altkirche vertrieben. Verschwunden sind die furchterregenden Bilder vom Fegefeuer. Mit Jakob Probus, dem endgültig zum Lutheraner gewordenen Pfarrer, zieht die Reformation in Eppstein ein. Ein Buch, das den kleinen geschichtsträchtigen Ort im Taunus mit zeitgenössischen Persönlichkeiten wie Martin Luther, Lucas Cranach und Albrecht von Brandenburg in Verbindung bringt. | ||
Leseprobe Jörg war selbstbewusst in der Kirche erschienen. Er stand hoch aufgerichtet mit ernstem Gesichtsausdruck am Frühmessealtar und wandte sich mit seiner wohlklingenden Stimme an die kleine Schar von Kirchgängern, die in Grüppchen vor ihm in der Kirche versammelt waren. Nach Abschluss von Lesung und Evangelium hatte er ihre volle Aufmerksamkeit. Noch eine kurze Litanei und dann die Predigt. Er predigte eindrucksvoll mit gepflegten Worten und leicht verständlich. Ohne Umschweife zeigte er ihnen, was bei ihrem lasterhaften Leben auf sie wartete. „Alle, ausnahmslos alle, habt ihr ein Sündenregister, das zu Beginn sehr klein ist. Aber mit jedem Tag und jeder Woche kommen neue Sündenstrafen dazu. Jedes üble Wort über den Nachbarn, jede Lüge im Familienkreis und jede Gotteslästerung bringt einen neuen Eintrag." Langsam ging Kaplan Jörg dazu über, weitere Vergehen und Fehltritte zu benennen, die das Ausmaß der Strafe erheblich zunehmen ließen, bis er schließlich zu den Verbrechen kam, nach denen das Strafkonto enorm anschwoll. Jörg beließ es beim ersten Mal bei dieser Aufsummierung der Sündenstrafen. Er war zufrieden mit dem Eindruck, den seine Worte gemacht hatten. Bei der nächsten Messe würde er über die Beichte sprechen und die große Erleichterung, die sie bringe, auch wenn sie nicht die Läuterung der Seelen im Fegefeuer erspare. Eine Woche später begann er mit der Schilderung des Fegefeuers. Zunächst kam die Beschreibung der hohen und stillen Räume, die sich aneinanderreihten und durch feuchtwarme Nebelschwaden verbunden waren. Dort mussten die Sünder auf blanken Holzbänken warten. Das war noch erträglich. Um sie herum waren nackte Teufel zu sehen, die kleine Feuer entfachten. „Was wird als Nächstes folgen?", fragte er. „Die Leiber beginnen unter der Hitze zu leiden und die Seelen der Menschen werden in Bedrängnis kommen. Voller Entsetzen werden sie bemerken, wie sich die Haut rötet und kleine Bläschen entstehen. Dabei wird eine Sünde nach der anderen zum Vorschein kommen und im Sündenregister abgehakt werden." Jörg war ein Meister darin, die Schreckenskammern nacheinander in ganz feinen Nuancen darzustellen. Es war, als hätte er seine Schriftrolle nur ein kleines Stück weitergedreht. Die Qualen des Fegefeuers wurden schlimmer und ließen eine Ahnung zu, was noch kommen könnte. Entstünden da vielleicht erste Verbrennungen am Körper? Das Trinkwasser würde knapp werden. Einige Teufel hätten Knüppel und teilten Schläge aus. Völlig unberechenbar. Hier mal ein Schlag, da mal ein Schlag. Die Getroffenen würden aufschreien, wild umherrennen. Jörg glänzte im Erfinden von üblen Drangsalen und Quälereien. Neben dem Entzug von Trinkwasser und Nahrung half auch der ständige Lärm der unentwegt herumtobenden Teufel, dass immer mehr Sünder die Grenze dessen erreichen, was sie aushalten konnten. Dann wurde ein wenig gebremst, nicht aufgehört. Ein Meisterwerk an Scheusal in dieser Pause war das Stopfen, die langsame, zwanghafte Füllung der Menschen mit Speisen, die sie nicht mochten, ein Leben lang verschmäht hatten, bis der Magen sich meldete und alles erbrochen wurde. Dann begann der Prozess von neuem. Dieses Schauspiel streute Jörg zur Erholung der armen Sünder ein. Es würde nur Einzelne treffen, deren Ernährungsgewohnheiten die Teufel in Erfahrung gebracht hatten, und die dann vor aller Augen das für sie zubereitete Essen herunterwürgen müssten. Die meisten armen Sünder würden es genießen, in dieser Zeit in Ruhe gelassen zu werden und ihre Wunden pflegen zu können. Bei der Schilderung größter Mühsal und Pein nahm die Zeit überhaupt kein Ende. Keiner würde wissen, wann es für ihn begonnen hatte und wie lange es dauern würde. Nur eins war klar. Es müsste alles bis zum Ende erduldet werden. |